Sozialisation
und Habituation - überlebenswichtiger Frühsport für’sWelpengehirn
Alle
Welt spricht von guter "Sozialisation" und wie wichtig diese
ist. Was aber ist denn genau Sozialisation?
Unter
Sozialisation versteht man eine Entwicklung, die dazu führt, daß ein
Individuum (Tier oder Mensch) überhaupt in einer Gesellschaft leben
kann. Sie umfasst das Erkennen der Mitglieder dieser Gesellschaft und
die erfolgreiche Kommunikation mit diesen Mitgliedern. Sozialisation
beim Hund findet daher in der Regel mit anderen Hunden und mit Menschen
statt, da dies die beiden Spezies sind, mit denen Hunde zusammenleben.
Eine Ausnahme ist, z.B., die Sozialisation von Herdenschutzhunden wie
Maremmern mit Schafen.
Die
Gewöhnung an die restliche Umwelt und wie man möglichst unfallfrei
mit ihr umgeht, nennt man Habituation. Bei Sozialisation und Habituation
handelt es sich also um verschiedene Dinge. Beiden ist gemeinsam, daß
sie in frühester Jugend passieren müssen, um den Hund auf sein späteres
Leben vorzubereiten.
Die
wichtigste Zeit, um angemessenes Verhalten in allen Alltagssituationen
zu trainieren (also für Sozialisation und Habituation) sind die sogenannten
sensiblen Phasen. Diese, von unterschiedlichen Autoren in unterschiedliche
Wochen gefassten Entwicklungsphasen des Welpen können circa bis zur
12. Woche andauern, wobei die Aufnahmebereitschaft zwischen 3. und 8.
Woche am höchsten ist und danach stark abfällt. Da die verschiedenen
Entwicklungsstufen bei Hunden unterschiedlicher Rassen individuelle
Variationen haben, ist eine schematische Einteilung von Woche X bis
Woche Y wenig sinnvoll.
Nach
der Geburt entwickeln sich die Sinnesorgane und das Gehirn der Welpen
zur Vollendung, und die Welpen lernen, auf die immer vielfältiger werdenden
Reize mit immer komplexeren Verhaltensweisen zu reagieren. So beginnt
ihr Leben mit den Eindrücken über die Haut, kalt oder warm, hart oder
weich und den über die Nase. Sie erkennen den vertrauten Geruch der
Mutter, können fühlen, wo es in ihrem Lager warm und weich ist und
reagieren mit Hinrobben. Mit den Tagen kommen dann die weiteren Sinnesleistungen
wie Sehen und Hören hinzu und die Eindrücke auf die Welpen vervielfachen
sich. Sie lernen, die Mutter und ihre Geschwister erkennen und deren
Verhaltensweisen, Lautäußerungen und Gerüche zu deuten und zu beantworten.
Hierbei lernen sie durch Erfolg und Misserfolg, sich möglichst passend
und für das eigene Weiterkommen günstig zu verhalten. Sie sind in
der Lage, positive und negative Reaktionen auf eigenes Verhalten wahrzunehmen
und Konsequenzen in Bezug auf Wiederholungen zu ziehen.
In
den ersten Lebenswochen findet eine ungeheure Entwicklung des Gehirns
statt. Alle Leistungen des Gehirns funktionieren über elektrische Impulse,
die über bestimmte Nervenbahnen geschickt werden." Diese Nervenbahnen
entstehen durch die Verbindung von Nervenzellen (Neuronen). Zum Zeitpunkt
der Geburt entwickeln sich Nervenzellverbindungen im Gehirn in riesiger
Anzahl aber chaotischer Form. Wissenschaftler fanden bis zu 10.000 Verbindungen
eines einzigen Neurons. Einige Nervenbahnen sind genetisch dazu programmiert
nach ein paar Wochen von selbst zu verschwinden. Sie vermitteln die
ersten Reflexe eines Neugeborenen, die später nicht mehr gebraucht
werden. Das Bestehenbleiben von Nervenbahnen und der Ausbau dieser Bahnen
bedarf der regelmäßigen Stimulation. Ohne diese Stimulation verschwinden
diese Nervenbahnen, da sie ja offenbar nicht gebraucht werden. Dadurch
reduzieren sich die Verbindungen pro Neuron wieder, und das Chaos wird
strukturiert.
Eine
Umgebung mit vielen Reizen, die die Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit
der Welpen schult, führt zu einer Ausprägung von Nervenbahnen, die
sich für das Leben der Welpen als sinnvoll erwiesen haben. Andere Nervenbahnen,
die nie stimuliert werden, verschwinden." Man kann sagen, die von
der Welpenumwelt häufig stimulierten Nervenbahnen entwickeln sich als
4-spurige Autobahnen, die kaum stimulierten Nervenbahnen hingegen entsprechen
eher winzigen Feldwegen. Bei jeder neuen Situation im späteren Leben
werden natürlich vorrangig die "Nervenautobahnen" benutzt,
um eine passende Reaktion zu finden. Je "eingefahrener" ein
Hund also in seinen gedanklichen Fähigkeiten ist, umso schwerer wird
es ihm fallen, mit neuen Situationen umzugehen.
Eine
reizarme Umgebung in der Jugend, insbesondere abgeschottete Zwingeraufzucht,
führt zwangsläufig zu einer mangelhafteren Gehirnausprägung. Derartig
aufgezogene Hunde werden auch bei bestem Verhaltenstraining im späteren
Leben niemals ihr maximales Potential ausschöpfen können, weil wichtige
Zeit der Gehirnentwicklung vertan wurde.
Es
bedarf erheblicher Geduld und Einfühlungsvermögens des späteren Besitzers,
die "Feldwege" im Gehirn auszubauen, so daß sie mit gleicher
Wahrscheinlichkeit benutzt werden, wie die im Welpenalter angelegten
"Nerven-Autobahnen".
Es
ist daher von überragender Bedeutung, Welpen bereits bis zur 8. Woche
mit Umwelteinflüssen vertraut zu machen, die ihnen im späteren Leben
begegnen werden. Ein verantwortungsvoller Züchter muß sich daher die
Frage stellen, in was für einer Umgebung die von ihm gezogenen Hunde
wohl leben werden.
Für
den Welpenkäufer ist es vergleichsweise einfach. Er muß nur die Umwelt,
in der die Welpen leben mit seinem Zuhause vergleichen. Je weniger Übereinstimmungen
zu finden sind, umso mehr Schwierigkeiten kann er mit seinem neuen Hund
erwarten.
In
unserem Land ist zu erwarten, daß auch Arbeitshunde Auto fahren werden.
Sie müssen laute Geräusche von Verkehr oder Treckern aushalten. Sie
sollen angstfrei mit anderen Hunden und fremden Menschen, meist auch
Kindern umgehen können. Sie müssen sich anfassen und handhaben lassen.
All dies sollten sie bereits als Welpen kennen lernen. Außerdem sollten
sie Zugang zu neuen Umgebungen haben. Über neugierige und spielerische
Erfahrungen lernen Hunde mit neuen Dingen umzugehen. Sie erlernen die
Fähigkeit, Probleme zu erkennen und Lösungen zu suchen, ohne in Panik
zu geraten.
Die
Fähigkeit, Probleme zu lösen ist essentieller Bestandteil der Trainierbarkeit,
die für die Ausbildung von Arbeitshunden so überragende Wichtigkeit
hat. Dies betrifft ebenfalls die Fähigkeit, Konflikte mit anderen zu
lösen. Die Kommunikation mit Hunden und Menschen muß trainiert werden.
Sie ist nicht angeboren.
Dennoch
gibt es natürlich große individuelle Unterschiede in den angeborenen
Fähigkeiten. Ein gutes Temperament ist daher das Wichtigste an einem
Hund.
Unter
einem Hund mit einem guten Temperament versteht man einen ausgeglichenen
Hund, der von neuen Situationen nicht überfordert ist, und ein positives
Verhältnis zu seiner Umwelt hat. Das bedeutet nicht, daß sich so ein
Hund nicht auch einmal fürchten darf, eine gewisse Vorsicht kann lebensrettend
sein. Allerdings darf die gesunde Vorsicht nicht in generelle Ängstlichkeit
ausarten, denn neben der Beeinträchtigung der Lebensqualität durch
Angst schränkt sie auch die Fähigkeit zum Lernen ein und ist somit
kontraproduktiv. Ein gutes Temperament bedeutet auch die Fähigkeit,
mit anderen Hunden und Menschen möglichst konfliktfrei umzugehen. Das
ständige Bedürfnis, tatsächliche oder eingebildete Privilegien verteidigen
zu müssen, ist ein Zeichen von Unsicherheit.
Ausgeglichenheit
wird unter anderem durch einen ausgeprägten Einfluß des sogenannten
parasympathischen Nervensystems verursacht, Ängstlichkeit und Aggressivität
wird durch einen hohen Einfluß des sympathischen Nervensystems vermittelt.
Die Stärke beider Einflüsse wird zu einem nicht unwesentlichen Anteil
von der Vererbung bestimmt.
Für
Ängstlichkeit wird eine Heritabilität (Anteil der Vererbung) von bis
zu 40% angenommen. Daher ist es von überragender Bedeutung neben den
Arbeitsqualitäten auch das Temperament der eigenen Zuchthunde kritisch
zu prüfen.
Zusammenfassend
kann man sagen, daß eine hohe mentale Leistungsfähigkeit sowohl vom
ererbten Temperament als auch von der Aufzucht bereits in frühester
Jugend abhängt.
Diese
wiederum bringt eine hohe Adaptationsfähigkeit des erwachsenen Hundes
an fremde Situationen mit sich. Beides sind Eigenschaften, die für
unsere Arbeitshunde neben ihrer speziellen Arbeitsveranlagung besonders
wichtig sind.
An
der Kenntnis und Umsetzung dieser Dinge kann man einen guten Züchter
erkennen.
Dr.
Viola Hebeler