Ausgabe 06/2004
November + Dezember 2004

Tschetschenien...

... über den Konflikt im Kaukasus

Vorwort

Diese Arbeit wurde uns angeboten von Teemu Schaper, der als Abschlussarbeit im Leistungskurs Politik den Tschetschenien-Russland-Konflikt gewählt hat.

Durch die Geschehnisse der letzten Monate (Flugzeugabstürze, Beslan) ist diese Thema wieder in die Öffentlichkeit gerückt.

Für uns ein Grund, diese Arbeit zu veröffentlichen, Tschetschenien ist eines der Länder im Kaukasus, aus dem der kaukasische Owtscharka stammt. Diese Länder haben eine uralte Kultur und die geht natürlich durch solche Kriege auch verloren. Dies ist unverständlicherweise nie Teil der Berichterstattung in den Medien.

Wir sind uns klar, daß die politische Situation in dieser Region derzeit sehr undurchsichtig ist und daß in Deutschland die Aufklärung über diese leider oft von eigenen Belangen geprägt ist. Vielleicht hilft dieser Artikel, den Konflikt mal nicht in der üblichen 2 Minuten Berichterstattung zu sehen und vielleicht bekommt man durch ihn eine neutralere Sicht.

Hartmut Deckert


Einleitung

Persönliche Themenfindung

Für mich stand das Thema der Facharbeit recht früh fest. Da meine erste Wahl - der Russland-Finnland-Konflikt im letzten Jahrhundert - wegen fehlender Aktualität abgelehnt wurde, entschied ich mich aufgrund gewisser Parallelen für die Bearbeitung der andauernden Problematik zwischen Russland und Tschetschenien.

Neben meiner Bewunderung für kleine Völker und Staaten, die sich gegen vermeintlich übermächtige Gegner zur Wehr setzen, spielt auch die aktuelle weltpolitische Lage bei der Themenfindung eine gewisse Rolle.

Einerseits ist nämlich der von mir zu bearbeitende Konflikt spätestens seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001 aus dem Fokus des öffentlichen Interesses verschwunden, andererseits besitzt er aufgrund des auch hier anwesenden Zusammentreffens von Islam und westlicher bzw. christlicher Kultur eine hohe Aktualität.

Für mich stellt sich also die Frage, inwieweit es sich in Tschetschenien um islamische Terroristen handelt, welche aufgrund religiöser Beweggründe einen eigenen Staat gründen wollen, oder ob noch andere Ursachen zu dem Konflikt geführt haben.

Das Bild, dass viele Medien zeigen, hat sich nämlich seit dem Krieg gegen die Taliban in Afghanistan radikal gewandelt: Sprach man vorher häufiger von "Unabhängigkeitskämpfern" oder sogar "Freiheitskämpfern", änderten sich die Bezeichnungen hinterher in "islamische Terroristen" oder allgemein "tschetschenische Rebellen". Welcher Begriff ist nun richtig? Oder muss man zwischen den einzelnen Gruppierungen vielleicht differenzieren?

Neben der Bewältigung der von der Schule gestellten Anforderung einer Facharbeit spielt also durchaus persönliches Interesse eine Rolle, und das Ziel, den Konflikt so gut es geht zu veranschaulichen.

Das Ergebnis meiner Arbeit soll ein allgemeiner Überblick über den Konflikt sein, wobei ich als Schwerpunkt die Hintergründe und den Verlauf der jüngsten Auseinandersetzungen bearbeiten werde.

Grundinformationen über Tschetschenien und den Nordkaukasus

Das Nordkaukasusgebiet ist gesicherten Forschungen zufolge seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. von Menschen bevölkert (vermutlich jedoch schon wesentlich länger), und gehört mit über 60 gesprochenen Sprachen (siehe Anhang, S. A1 - hier die Grafik) auf relativ kleinem Raum zu den ethnisch vielfältigsten Regionen der Erde. Erfolgt ist diese Vielfalt durch die Völkerwanderungszeit, während der das Kaukasusgebiet für viele Völker als "Durchzugsstraße" fungierte.

Quelle: Teemu Schaper

Der nördliche Teil - in dem u. a. Tschetschenien liegt - erstreckt sich zwischen der kaukasischen Schwarzmeerküste im Westen und dem Kaspischen Meer im Osten, sowie dem nördlichen Kaukasushochgebirge im Süden und dem sehr fruchtbaren Kaspischen Tiefland im Norden.

Anders als die südliche Kaukasusregion gehört der Norden mit seinen vielen kleinen Republiken (siehe Anhang, S. A2 - hier die Grafik) offiziell zur Russischen Föderation, wobei der Status Tschetscheniens z. Zt. nicht klar definiert ist.

Quelle: Teemu Schaper

Tschetschenien bedeckt eine Fläche von ungefähr 16.000 km², was ungefähr der Größe Schleswig-Holsteins entspricht.

Vor dem russischen Einmarsch im Jahr 1994 lebten ca. 1 Mio. Menschen in Tschetschenien, welche sich neben Tschetschenen, Russen und Inguschen noch aus verschiedenen anderen Volksgruppen, vor allem der Nachbarrepubliken zusammensetzten. Durch die beiden letzten Kriege haben ca. 250.000 - 300.000 Menschen das Land verlassen, genaue Daten über die derzeitige Bevölkerungszahl und deren Zusammensetzung liegen nicht vor.

Im 8. Jahrhundert wurden die Tschetschenen von Georgien aus christianisiert, im Verlauf des 17. bis 19. Jahrhunderts traten die meisten Clans zum sunnitischen Islam über. Seit jeher gelten diese meist mehrere Dörfer umfassenden Clans (tejp) als wichtige Bindungsglieder, übergeordnet übernehmen die Sufitischen Bruderschaften diese Rolle.

Hintergründe

Historische Ursachen des Konfliktes

Im Jahre 1587 entdeckten Kundschafter des russischen Zaren die wahrscheinlich erste tschetschenische Siedlung im Kaukasusvorland an dem heute durch Grosny fließendem Fluss Sunsha. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten die Tschetschenen ausschließlich im zerklüfteten Bergland, wo sich die Mehrheit auch weiterhin aufhielt. Bald darauf kam es zu ersten Zusammenstößen zwischen zaristischen Eroberern und tschetschenischen Widerstandskämpfern, bei denen die russische Armee schmerzliche Niederlagen erlitt.

Schon zu diesem recht frühen Zeitpunkt wurde von einem religiös motivierten Krieg der Tschetschenen gesprochen, was jedoch nur teilweise richtig ist.

Aufgrund sehr lockerer Verbindungen der vielen tschetschenischen Clans - eine gemeinsame Regierung o. ä. gab es nicht - stellte sich die (mittlerweile islamische) Religion als einziges Bindeglied dar. Sie diente praktisch als Identifikations- und Bezugsgröße der verschiedenen Stämme, ein tschetschenisches Nationalbewusstsein entstand erst wesentlich später.

Bis 1789 dauerte der Konflikt zwischen dem russischen Zaren und den Kaukasusvölkern an, welche sich sowohl gegen Russland als auch gegen das Osmanische Reich verteidigen mussten. In den Folgejahren konzentrierten sich jedoch beide Staaten auf die Nachwirkungen der Französischen Revolution, sodass die Kaukasusregion zunächst sich allein überlassen wurde.

Erst mit der Gründung der befestigten Stadt Grosny (was soviel bedeutet wie "Drohende Stadt") im Jahr 1818, welche als Rückzugsbasis der russischen Armee bei Eroberungs- und Strafexpeditionen im Kaukasus diente, und der parallellaufenden Ansiedlung russischer Bauern im ertragreichen Kaukasusvorland entstand neues Konfliktpotenzial.

Der Widerstand der dort mittlerweile fest ansässigen Tschetschenen und der in den Bergen lebenden Stämme (Tschetschenen, Inguschen, Tscherkessen...) wurde von dem radikalen Islamisten Gazi Mohammed gesteuert und mündete 1840 in der Ausrufung eines islamistischen Staates auf dem Gebiet des heutigen Tschetschenien und Dagestan durch Schamil, welcher eine ca. 6.000 - 10.000 Soldaten umfassende Armee aufgebaut hatte. Doch schon 1859 wurden seine Kämpfer von russischen Truppen besiegt und das Gebiet wieder in das russische Territorium eingegliedert.

Sechs Jahre später wurden auch die letzten Reste der Widerstandsbewegung vernichtet und große Teile des tschetschenischen und tscherkessischen Volkes in das Osmanische Reich vertrieben.

In Folge der russischen Februarrevolution 1917 bildeten sich verschiedene Staaten in der Kaukasusregion mit verschiedenen Zusammensetzungen (1918 "Imamat der Bergvölker", "Nordkaukasische Föderative Republik", 1919 "Nordkaukasisches Emirat"), welche jedoch von Russland, bzw. der Sowjetunion im Jahr 1920 unter dem Namen "Berg-Sowjetrepublik" zusammengefasst - und der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) einverleibt wurden. Diese "Berg-Republik" umfasste die Gebiete Tschetschenien, Inguschetien, Ossetien, Kabardien, Balkarien und Karatschaj.

Bis zu dem Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft im Jahr 1928 entwickelte sich diese Region enorm weiter, Schulen wurden eröffnet, Regierungsposten im Zuge der leninschen "Entwurzelungspolitik" durch Einheimische besetzt und manche Sprachen überhaupt das erste Mal kodifiziert.

Doch durch die nun folgende Umsiedelung und Enteignung und die damit einhergehende Gewalt durch den NKDW (ehemaliger sowjetischer Geheimdienst) verschärfte sich die Lage erneut.

Vor allem die Ermordung von 14.000 (immerhin 3% der Gesamtbevölkerung) Tschetschenen und Inguschen 1930/31 im Zuge der "Ausmerzung antisowjetischer Elemente" (Stalin) führte zu einer enormen Zunahme freiwilliger Partisanenkämpfer.

Bis zum Jahre 1942 setzten sich immer wieder einzelne Gruppen gegen die sowjetische Gewaltherrschaft zur Wehr, allerdings ohne eine Unabhängigkeit erreichen zu können.

Mit dem Eintreffen der deutschen Wehrmacht 1942 entspannte sich die Lage für viele Kaukasusvölker zunächst, da zuvor von den Russen geschlossene Schulen und Kirchen wieder eröffnet, und einige Kolchosen aufgelöst wurden. Wo die Deutschen jedoch auf Widerstand stießen, griffen auch sie hart und brutal durch.

Erwähnenswert sei hier die Tatsache, dass die Wehrmacht zwar große Teile des Kaukasus besetzt hatte, in Tschetschenien befand sich allerdings entgegen späterer Behauptungen während des gesamten Zweiten Weltkrieges kein einziger deutscher Soldat.

Trotz diesem Fakt und der Tatsache, dass mehrere aus Tschetschenien stammende russische Offiziere während des Krieges z. T. bedeutende Auszeichnungen erhalten hatten, wurde auf Befehl Stalins im Februar 1944 der größte Teil des tschetschenischen und inguschischen Volkes unter dem Vorwand, sie hätten mit den deutschen Besatzern kollaboriert, nach Kasachstan deportiert. Während den unter unmenschlichen Bedingungen stattgefundenen Transporten in Viehwaggons und den daraus resultierenden Krankheiten starben Schätzungen zu Folge zwischen 20 und 30% der davon Betroffenen.

In der Zeit bis zu ihrer Rehabilitierung 1956 durch KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) Chef Chruschtschow - Stalin war 1953 gestorben - bewahrten die Deportierten ihre Religion und Traditionen und bildeten ein für sie neues National- und damit verbundenes Identitätsbewusstsein.

Nach ihrer Wiederkehr waren die Konflikte jedoch keineswegs verschwunden, sondern es kamen sogar neue hinzu. Durch die Stalinistische Umverteilung bedingte Grenzverschiebungen führten zu neuen Interessenskonflikten, da in einigen Fällen verlassene Gebiete neuen Gruppen zugesprochen worden waren und diese nun auf die, aus der Verbannung zurückkehrenden, ursprünglich dort lebenden Menschen trafen (z. B. Konflikt zwischen Inguschen und Osseten um einen Landstrich nahe der Stadt Wladikawkas). Diese Spannungen halten noch bis in die heutige Zeit an und führen immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.

Die Bedeutung der Religion

Der traditionelle Islam

Die Tschetschenen und viele der Nachbarstämme sind zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, aufgrund der vielen verschiedenen Stammeseinheiten, nur langsam zum Islam übergetreten. Anders als in vielen vor allem russischen Berichten beschrieben, ist der Islam seit dem zwar immer ein Bestandteil des täglichen Lebens gewesen, allerdings prinzipiell nie in drastischer oder gar terroristischer Form. Man könnte sogar behaupten, dass die Islamisierung eine direkte Reaktion auf das Vordringen der zaristischen Eroberer war, die Tschetschenen benötigten quasi ein Verbindungsglied zwischen den traditionellen Stämmen anstelle eines noch nicht ausgeprägten Nationalbewusstseins.

Obwohl in Tschetschenien die Scharia (das auf Überlieferungen Mohammeds basierende sehr konservative islamische Gesetz) mit all ihren das tägliche Leben regelnden Vorschriften gilt, unterscheidet sich der Umgang mit der Religion erheblich von der z. B. in Afghanistan unter der Talibanherrschaft angewandten Art. Die althergebrachten Regeln des Adat, eines mündlich überlieferten tschetschenischen Verhaltenskodex, führen hierbei zu einem gemäßigterem Umgang mit dem Islam.

Trotz jahrzehntelanger Unterdrückung seitens der russischen/sowjetischen Regierung hat sich somit ein "Volksislam" behauptet, welcher während der Sowjetzeit parallel zum staatlich kontrollierten und offiziell erlaubten "Staatsislam" existierte.

Hierbei spielen die sog. "Bruderschaften" oder auch "Sufitischen Orden" eine entscheidende Rolle. Sie basieren auf traditionell religiösen Überlieferungen und sind sehr eng mit der "... gesellschaftlichen Struktur verflochten"1.

Gewaltverherrlichende oder -fordernde Elemente werden von ihnen allerdings in keiner Weise gefördert, von den Regelungen der Blutrache und sonstiger familiärer Streitigkeiten einmal abgesehen.

Radikale Formen des Islam in Tschetschenien

Wie oben schon erwähnt, besteht der in Tschetschenien bzw. im Kaukasusgebiet allgemein praktizierte Islam eher aus traditionellen und gemäßigten Komponenten.

Seit einigen Jahren breitet sich hingegen auch eine sehr strenge und konservative Richtung aus, der Wahhabismus. Trotz konservativer und manchmal befremdlich erscheinender Einflüsse kann man den Wahhabismus an sich nicht als gewaltfördernd bezeichnen.

In den russischen Medien und vor allem in russischen Regierungsberichten werden Wahhabiten jedoch häufig mit islamistischen Terroristen gleichgesetzt. Mag diese Definition vom Prinzip her falsch sein, so lässt sich doch nicht leugnen, dass sich militante tschetschenische Gruppierungen auf den Wahhabismus mit seinen strengen Gesetzen berufen. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei allerdings um einen Missbrauch, den verschiedene Warlords begehen, um vor allem von den bisherigen Macht- und Religionsstrukturen enttäuschte Jugendliche an sich zu binden. Dieses bedeutet jedoch nicht, dass der radikale Islamismus in großen Teilen der tschetschenischen Bevölkerung verwurzelt ist.

Häufig ersetzen die mit dem Wahhabismus verbundenen Regeln (Sunna) auch einfach nicht vorhandene staatliche Gesetze, um überhaupt einen Bewertungs- und Ordnungsmaßstab zu haben.

Des weiteren lässt sich sagen, dass die Zuwendung zu radikalen Gruppierungen oftmals eine Schutzfunktion vor russischen Aggressionen war und ist, da ein Anschluss an internationale radikalislamische Organisationen häufig finanzielle und materielle Hilfe mit sich bringt. So wird es fast als erwiesen angesehen, dass der saudische Terrorist Osama Bin Laden tschetschenische Kämpfer unterstützt hat bzw. noch immer unterstützt.

Wirtschaftlicher Hintergrund

Die Hauptwirtschaftszweige in Tschetschenien sind die Landwirtschaft und die Ölförderung bzw. Ölverarbeitung. Dieser zweite Bereich, also der Umgang mit dem Öl, ist auch eine Ursache für die hohe Bedeutung Tschetscheniens innerhalb der Russischen Föderation und kann auch als Mitverursacher der enormen Verbissenheit im Verlauf des tschetschenisch/russischen Konfliktes angesehen werden.

Das zunächst wichtigste und immer noch bedeutende Ölförderungsgebiet auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion befindet sich nahe der aserbaidschanischen Stadt Baku.

Im Jahre 1893 wurden dann die ersten Ölvorkommen nahe der heutigen tschetschenischen Hauptstadt Grosny entdeckt und angebohrt. Bis zur Februarrevolution 1917 förderte Grosny 18 % der gesamten Ölmenge des Zarenreiches.

1927 wurden schließlich die Ölgebiete Baku und Grosny per Pipeline mit den Häfen am Schwarzen Meer verbunden, sodass ein Transport nach Westeuropa möglich wurde.

Da die Gebiete um Grosny in den 30er Jahren bis zu 33 % der sowjetischen Gesamtmenge förderten, überrascht es wenig, dass sich Adolf Hitler sehr für diese Region interessierte. Die deutschen Truppen konnten sie allerdings nie besetzen, geschweige denn kontrollieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nicht mehr sehr viel Geld in die Förderanlagen von Grosny investiert, da mittlerweile neue und ertragreichere Felder in Sibirien entdeckt worden waren. So sank die jährliche Fördermenge stetig, bevor sie während des ersten Tschetschenienkrieges fast völlig erlag.

Infolge dessen funktionierten im Jahre 1994 nur noch 100 von insgesamt 1500 Fördertürmen in und um Grosny. Grund hierfür waren einerseits Sabotageaktionen örtlicher tschetschenischer Clanführer, andererseits auch großflächige Bombardements der russischen Luftwaffe.

Weiterhin große Bedeutung hatte bzw. hat Grosny immer noch als Raffineriestandort. Hier wird das in Baku geförderte Rohöl veredelt oder zu Schmiermitteln und anderen auf Erdöl basierenden Produkten weiterverarbeitet.

Doch auch als Durchgangsland des am Kaspischen Meer geförderten Öls fällt Tschetschenien weiterhin eine entscheidende Rolle zu, es dient quasi als Korridor zwischen Baku und Russland bzw. Westeuropa. Auf dieser Grundlage betrachtet, basiert das Interesse Russlands an Tschetschenien also nicht nur auf politischen Interessen - ein Abfall Tschetscheniens könnte als Beispiel für andere nach Unabhängigkeit strebender Objekte der Russischen Föderation dienen und somit zu einem Zerfall führen - sondern auf konkret wirtschaftlichen (siehe Anhang, S. A3 - hier die Grafik). Die sich meist in russischer Hand befindlichen Ölfirmen um Grosny haben aber auch sonst genügend Anlass zu Konflikten gegeben. So wurden fast ausschließlich Russen und Ukrainer als Arbeiter eingestellt, sodass die als Menschen zweiter Klasse angesehen Tschetschenen und sonstige dort in der Minderheit lebenden Ethnien von den in ihrem Land produzierten Gütern in keiner Weise profitierten.

Quelle: Teemu Schaper

Die Tschetschenienkriege

Beginn und Verlauf des ersten Krieges

Schon 1990 beschloss der parallel zur Sowjetregierung existierende tschetschenische Nationalkongress die (einseitige) Ausrufung eines unabhängigen Staates, welche in Folge des Moskauer Putschversuches 1991 durchgeführt wurde. Erster Präsident des unabhängigen Tschetscheniens wurde der ehemalige Offizier der russischen Armee in E s t l a n d und Vorsitzende des Nationalkongresses in Tschetschenien, Dschochar Dudajew, welcher im Herbst den Amtseid auf den Koran ablegte.

In der Folgezeit kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen mit sich in Tschetschenien befindlichen russischen Truppen, welche die Unabhängigkeit nicht anerkennen wollten. Parallel hierzu bildete sich eine auf Clanstrukturen beruhende, z. T. russlandtreue, Opposition zu Dudajew, welche teilweise mit Moskauer Unterstützung Dudajews Regierung heftig attackierte. Dieser Konflikt führte einhergehend mit einer russischen Wirtschaftsblockade 1992 zu einem innertschetschenischen Bürgerkrieg. Außerdem löste sich Inguschetien im selben Jahr aufgrund ethnischer Konflikte von Tschetschenien.

Zur Eskalation kam es im Dezember 1994, als sich 40.000 Soldaten umfassende russische Verbände der tschetschenischen Hauptstadt Grosny näherten. Zu dieser Zeit hielten sich ca. 13.000 bewaffnete tschetschenische Kämpfer in ganz Tschetschenien verteilt auf.

Der Angriff auf Grosny, welcher zu einer Flucht von 460.000 Zivilisten (fast die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt) vor allem in die Nachbarrepubliken führte, mündete in einem nie endenden Häuserkampf, bei dem es noch Wochen nach der eigentlichen Eroberung immer wieder zu Schießereien kam.

Ruine in Grosny
Foto: Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen

Da die tschetschenischen Truppen zunehmend an Boden verloren, verlagerten sich die Gefechte in das unzugängige Gebirgsland des Kaukasus. Parallel zu diesen Kampfhandlungen machte vor allem der tschetschenische Feldkommandant Schamil Bassajew durch spektakuläre Entführungen und Geiselnahmen (z.B. die Besetzung eines Krankenhauses auf russischem Boden 1996, in deren späteren Verlauf 58 der 100 Geiseln u. a. aufgrund des überstürzten Eingreifens russischer Einheiten ums Leben kamen) auf sich aufmerksam.

Durch eine verbreitet skeptische russische Öffentlichkeit gedrängt, unternahm der russische Präsident Boris Jelzin 1996 medienwirksam erste Versuche, um zu einem Friedensschluss zu kommen, der jedoch zunächst ausblieb.

Erst der wahrscheinlich von russischen Militärs verschuldete Tod Dudajews im April des selben Jahres führte zu vorsichtigen Annäherungen.

So kam es schließlich im Jahr 1997 unter OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)-Hilfe zu einem Friedensvertrag, der Tschetschenien teilweise Autonomie zusicherte, den letztendlichen Status der Republik jedoch nicht klar definierte.

Bei den anschließenden Präsidentenwahlen in Tschetschenien gewann der ehemals unter Dudajew tätige, eher gemäßigte, Feldkommandant Aslan Maschadow, sein Stellvertreter wurde der radikalere Schamil Bassajew.

Dem Krieg, bei dem insgesamt 100.000 russische Soldaten zum Einsatz kamen, fielen mindestens 80.000 Menschen zum Opfer.

Grosny und fast alle anderen Großstädte waren ebenso wie zahlreiche Dörfer zerstört, die Wirtschaft war zum Stillstand gekommen und die Armut und Hoffnungslosigkeit der ohnehin nicht reichen Bevölkerung erreichte eine neue Dimension.

Waisenkinder
Foto: Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen

Beginn und Verlauf des zweiten Krieges

Nach dem Rückzug der russischen Verbände aus Tschetschenien verstärkte sich das schon existierende Machtvakuum und die damit verbundene Gesetzlosigkeit. Vor allem radikale bewaffnete Gruppierungen, welche in vielen Fällen eine sofortige komplette Loslösung von Russland und eine erneute Aufnahme der Kampfhandlungen forderten, machten es dem legitimen Präsidenten Maschadow unmöglich, einen funktionierenden Rechtstaat aufzubauen. Diese Gruppen wurden vereinzelt sogar von Russland finanziell unterstützt, um Maschadows Position zu schwächen.

Hinzu kam eine Arbeitslosigkeit von über 95%, sodass viele Menschen schon allein zur Überlebenssicherung in kriminelle Geschäfte verwickelt waren. In diesem Zusammenhang spielte vor allem das Kidnapping eine wichtige Rolle (allein im Jahr 1999 kam es zu 1807 Geiselnahmen). Zudem blieb die vertraglich zugesicherte finanzielle Unterstützung von russischer Seite völlig aus, sodass an eine Wiederaufnahme z. B. der Ölförderung mangels Kapital überhaupt nicht zu denken war.

Allgemein lag das Gewaltmonopol also keinesfalls bei der offiziellen Regierung, Machtverhältnisse und Zuständigkeiten waren unklar und der Status Tschetscheniens nicht eindeutig definiert.

In der Folgezeit flammten auch andere kaukasische Konflikte wieder auf.

Schließlich kam es im August des Jahres 1999 zu einem nicht offiziellen militärischen Übergriff tschetschenischer Truppen unter Leitung des ehemaligen Vizepräsidenten und nun unabhängigen Banditenführers Schamil Bassajew auf die dagestanische Grenzregion. Hierbei waren grenzüberschreitende Clankonflikte der Auslöser. Fast zeitgleich, im September des selben Jahres, verübten angeblich tschetschenische Terroristen mehrere Anschläge in Russland, bei denen insgesamt 252 Zivilisten ums Leben kamen.

Als Reaktion verlegte die russische Militärführung 50.000 zusätzliche Soldaten an die 540 km lange russisch/tschetschenische Grenze und begann gleichzeitig mit massiven Raketenangriffen gegen Großstädte (u. a. Grosny) und tschetschenische Stellungen in den Bergen. Dass sowohl die Anschläge als auch der Konflikt im Grenzgebiet zu Dagestan nicht von der offiziellen Regierung ausgegangen waren, spielte hierbei keine Rolle.

Am Ende des Monats September kontrollierten die Russen zwei Drittel des tschetschenischen Territoriums, Grosny konnten sie allerdings trotz massiver Angriffe, unter denen vor allem die 50.000 noch verbliebenen Zivilisten litten, zunächst nicht einnehmen.

Anders als im ersten Krieg bestanden die ca. 100.000 russischen Soldaten zu einem größeren Anteil aus Mitgliedern von Spezialeinheiten, die eine bessere Ausbildung genossen hatten als die regulären Truppen. Mit ihnen kämpften mehrere hundert Bewaffnete mit Maschadow und Bassajew konkurrierender tschetschenischer Verbände, welche sich aus der Zusammenarbeit mit den Russen persönliche Vorteile erhofften. Ihnen gegenüber standen ca. 8.000 antirussische Partisanen unter dem Oberkommando von Maschadow.

Mehrere Friedens- und Verhandlungsangebote der tschetschenischen Führung wurden kategorisch abgelehnt und schließlich die vollkommen zerstörte Hauptstadt Grosny im Februar 2000 eingenommen, ohne jedoch die sich im Rückzug befindenden tschetschenischen Widerstandsgruppierungen zerschlagen zu können.

Im Juni desselben Jahres erklärte der russische Präsident Wladimir Putin die offiziellen Kriegshandlungen als beendet, und die "Terroristen" als besiegt.

Trotzdem kam es auch in der Folgezeit immer wieder zu massiven Verlusten der russischen Armee, welche selbst in Grosny keine totale Kontrolle ausüben konnten. Die unter vielen russischen Soldaten geltende Losung: "Der Tag gehört den Russen, die Nacht den Tschetschenen"2 beschreibt die ständige Angst vor nächtlichen Angriffen tschetschenischer Kämpfer.

Die Situation in Tschetschenien ist auch heute keinesfalls als befriedet anzusehen, der Zustand des Landes hat sich seit dem Sommer 2000 kaum geändert. Noch immer kommt es zu gewalttätigen Übergriffen vor allem der Truppen des russischen Innenministeriums (OMON-Einheiten) gegen die Zivilbevölkerung, und noch immer kämpfen bewaffnete Tschetschenen, insbesondere im schwer zugängigen Bergland und in der Hauptstadt Grosny, gegen die russischen Besatzer.

Erst im Februar dieses Jahres machte ein angeblich von Tschetschenen verübter Anschlag auf die Moskauer U-Bahn mit 39 Toten auf den immer noch schwelenden Konflikt aufmerksam.

Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte

Schon im ersten Krieg fielen die russischen Truppen durch ihr brutales Vorgehen sowohl gegen tschetschenische Kämpfer als auch gegen die Zivilbevölkerung auf.

Als Beispiel hierfür kann man das Massaker an der Bevölkerung des kleinen Bergdorfes Samaschki nehmen, bei dem 250 Zivilisten ums Leben kamen. Auslöser für diese Aktion war die Forderung der russischen Einheiten, die Bevölkerung solle eine gewisse Anzahl an Waffen ausliefern, die tschetschenische Kämpfer angeblich dort versteckt hielten. Da diese Auslieferung ausblieb, wurde das Dorf bestraft und fast die komplette Bevölkerung vernichtet.

Foto: Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen

Seit dem zweiten Einmarsch der russischen Armee im Jahr 1999 setzen vor allem die OMON-Truppen des Innenministeriums und Einheiten der Geheimpolizei FSB verstärkt auf sog. "Säuberungen", in deren Verlauf bis zum Jahr 2003 mindestens 18.000 vor allem männliche Tschetschenen in extra eingerichteten "Filtrationslagern" verschwanden. Dort werden sie laut Zeugenaussagen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und unter Foltereinsatz verhört. Zu den dabei angewandten Methoden sollen unter anderem der Einsatz von Elektroschocks, Schläge mit dem Hammer, Vergewaltigungen und das Abschleifen der Zähne gehören.

Daten über die Zahl der Opfer solcher Lager liegen nicht vor. Vor dem Besuch einiger Filtrationslager durch eine EU-Menschenrechtsdelegation im Jahr 2000 seien diese präpariert, und verletzte und kranke Gefangene in andere Lager verlegt worden, so berichteten Überlebende.

Im Februar desselben Jahres töteten OMON-Einheiten 60 Bewohner des nahe bei Grosny liegenden Dorfes Nowyje Aldi, und begannen zusammen mit der Geheimpolizei FSB mit der Vernichtung der Ortschaft Katyr-Jurt, welche weitab der eigentlichen Kriegsschauplätze lag.

Nachdem das Dorf mehrere Tage lang mit Hubschraubern und Kampfflugzeugen attackiert worden war, sicherte man der Zivilbevölkerung freien Abzug in extra zur Verfügung gestellten Bussen zu. Diese wurden jedoch trotz deutlicher Kenntlichmachung beim Verlassen der Ortschaft angegriffen und insgesamt 363 Menschen getötet.

Anlässlich dieser Gräueltaten wurde nur ein einziger russischer Offizier wegen Vergewaltigung angeklagt und kurze Zeit später wieder freigesprochen.

Offiziellen Angaben zufolge starben bis zum Jahr 2003 insgesamt 150.000 Menschen aufgrund des Tschetschenienkonfliktes. Die geschätzten Zahlen übersteigen diese Daten jedoch erheblich.

Foto: Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen

Reaktionen auf den Konflikt in Tschetschenien

Berichterstattung in den Medien

Während des ersten Tschetschenienkrieges berichteten die russischen Medien sehr differenziert und kritisch, auch über Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte wurde informiert, so z. B. über den Einsatz von verbotenen Vakuumbomben oder Vernichtungsaktionen gegen die Zivilbevölkerung.

Da sich der anfangs von der Regierung als kurze Operation gegen wenige Terroristen angekündigte Krieg immer mehr in die Länge zog, wuchs die ohnehin große Abneigung innerhalb der russischen Bevölkerung.

Die Medien griffen diese Abneigung auf, und so führten schließlich kritische Berichte der Moskauer Tageszeitung ISWESTJA zu der Entlassung des für den Einsatz in Tschetschenien zuständigen russischen Verteidigungsministers Gratschow.

Im Nachhinein machen viele russische Militärs die Berichterstattung der Medien für die Niederlage im ersten Tschetschenienkrieg verantwortlich, da Boris Jelzin durch sie gewissermaßen zu Verhandlungen mit den Aufständischen gezwungen worden sei.

Im zweiten Krieg sah die Rolle der Medien völlig anders aus. Nicht nur die strikte Medienzensur, welche z. B. Interviews mit Tschetschenen untersagte oder Bilder von toten russischen Soldaten verbot, führte zu einem geringeren Engagement der Zeitungen und Fernsehstationen.

Die allgemeine Meinung innerhalb der russischen Bevölkerung hatte sich auch wegen angeblich von Tschetschenen in Russland verübter Anschlägen geändert. Im November 1999 äußerten einer Umfrage zufolge nur 7 % der Befragten Kritik am Vorgehen des russischen Militärs in der Kaukasusrepublik.

Ausländische Korrespondenten gelangten zwar weiterhin heimlich in die von Russland gesperrten Kriegsgebiete, aber das öffentliche Interesse an diesem Konflikt war auch aufgrund eines drohenden Krieges auf dem Balkan eher gering, sodass die Berichte bald aus den Zeitungen und TV-Nachrichten verschwanden.

Erst der Untergang des russischen Atom-U-Bootes KURSK im August 2000 fokussierte das öffentliche Interesse auf das russische Militär im Allgemeinen, und auf den Tschetschenienkonflikt - sozusagen im Sog - im Speziellen. Jetzt kamen auch wieder Vertreterinnen des "Komitees der Soldatenmütter" zu Wort, welche vor allem im ersten Krieg mit vehementen Forderungen nach einer Beendigung des Militäreinsatzes den Zorn der Regierenden auf sich gezogen hatten.

Reaktionen des Auslandes

Wie schon angedeutet, verlief die Entwicklung des zweiten Krieges parallel mit der Zuspitzung der Lage auf dem Balkan, in die die NATO direkt involviert war. Wohl um den sich anbahnenden Konflikt mit Russland über die Vorgehensweise im Kosovo nicht weiter zu verschärfen, beließen es die europäischen Staaten bei Aufforderungen zur Mäßigung beider sich im Kaukasus gegenüberstehender Parteien. Auch die USA hielten sich mit Kritik zurück und konzentrierten sich voll auf den bevorstehenden Einsatz im Kosovo.

Amnesty International hingegen kritisierte die russische Kriegsführung auf das Schärfste und sprach in diesem Zusammenhang sogar von Völkermord

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer forderte, ähnlich wie die Menschenrechtskommission der UN, im Februar 2000 eine Untersuchung der Menschenrechtsverstöße seitens der Russen, unabhängige OSZE-Beobachter sowie eine engere Zusammenarbeit der russischen Behörden mit dem internationalen Roten Kreuz. Da diesen Forderungen nicht nachgekommen wurde, entzog der Europarat der Russischen Föderation für 10 Monate das Mitspracherecht im Gremium, was allerdings keine Änderung des russischen Vorgehens in Tschetschenien nach sich zog.

In letzter Zeit äußern sich westliche Regierungen meistens nur im Falle von Anschlägen auf russischem Territorium, und speziell die USA weisen immer wieder auf die Wichtigkeit des Kampfes gegen internationale Terroristen hin, als solcher der Tschetschenienkrieg mittlerweile von der russischen Regierung unter Putin tituliert wurde.

Folgen des Konfliktes

Auch unter dem mittlerweile von Russland eingesetzten Verwaltungschef von Tschetschenien, Achmad Kadyrow, hat sich die Lage keinesfalls verbessert.

Die ehemals durchaus florierende Wirtschaft ist völlig zerstört, die Sicherheitslage ist verheerend und die Korruption führt zu Vetternwirtschaft und Verschwendung von den spärlichen Aufbaugeldern. Hinzu kommt die unklare Linie der russischen Regierung, welche eine vollkommene Machtübergabe an eine tschetschenische Regierung kategorisch ausschließt, und die Bevölkerung weiterhin mit "Säuberungsaktionen" verunsichert und gegen sich aufbringt.

Vor allem die Jugendlichen und Kinder leiden unter der täglichen Gewalt und lernen schon früh den Hass gegen die russischen Besatzer. So werden die Aggressionen von Generation zu Generation weitergegeben.

Foto: Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen

Die Lebensgrundlage der Tschetschenen ist auf Jahre hin zerstört und ein Zustand der gegenseitigen Anerkennung und Sicherheit scheint im Moment, und in Anbetracht des gerade Erwähnten, auch in naher Zukunft unvorstellbar.

Innerhalb der Bevölkerung - welche zum Großteil eher für mehr Autonomierechte als für eine komplette Loslösung von Russland eintritt - machen sich zunehmend Frustration und Perspektivlosigkeit breit. Vor allem viele junge Männer schließen sich radikalislamischen Bewegungen an, welche häufig als einzige Alternative angesehen werden. Sie sind es insbesondere, die dazu beitragen, dass im Schnitt immer noch 6 bis 10 russische Soldaten am Tag in Tschetschenien umkommen. Häufig ziehen diese Aktionen erneute Repressionen der gesamten Bevölkerung nach sich.

Persönliche Stellungnahme

Während der Recherchen zu meiner Facharbeit hat mich einerseits vor allem das äußerst brutale Vorgehen der russischen Armee erschrocken, andererseits hat mich die Ignoranz der Weltöffentlichkeit hinsichtlich des in meinen Augen vorgehenden Völkermordes in der nördlichen Kaukasusregion zutiefst beschämt.

Dass dort ein Verbrechen in solch einem Ausmaß begangen wurde und wird, war mir vor der Auseinandersetzung mit dem Thema nicht bewusst.

Die intensivere Beschäftigung mit jenem bestärkt mich in der Kritik an dem heuchlerischen Verhalten vor allem Russlands und Amerikas, welche nach dem Motto zu handeln scheinen: "Jeder kümmert sich um seine Probleme und übt keine Kritik am Vorgehen des anderen". Mir scheint es, dass jede Regierung nach Belieben gegen einen - gedachten oder realen - Gegner vorgehen kann, solange sie es als "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" deklariert - auf den Fall Tschetschenien trifft dies zumindest zu.

Welche Folgen diese Ignoranz haben kann, hat die Welt nicht zuletzt in diversen blutigen Anschlägen der letzten Jahre gesehen, bei denen häufig unschuldige Zivilisten ums Leben kamen.

Dieser Konflikt, welcher nun schon seit mehreren Jahrhunderten existiert, hat im Laufe der Zeit von der Weltöffentlichkeit fast unbemerkt die Lebensgrundlage eines ganzen Volkes auf Jahre hinaus zerstört. Die Wut darüber erschwerte es mir zunehmend, die Aktionen und Reaktionen im Kaukasus neutral zu bewerten.

Vor allem das erneute Aufflammen der Auseinandersetzungen seit dem Zerfall der Sowjetunion zeigt viele Merkmale eines Vernichtungskrieges gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung, der nun aufgrund der veränderten weltpolitischen Lage eigentlich einen Sturm der Entrüstung hervorrufen müsste. Doch scheinbar betrifft uns der Konflikt in einer Region, die kaum jemand kennt, überhaupt nicht, außerdem kann ein offiziell als "Krieg gegen islamische Terroristen" deklarierter Einsatz - welcher zudem von den USA gebilligt ist - doch nur im Sinne der westlichen Welt sein - diese Meinung scheint zumindest weit verbreitet.

Meiner Ansicht nach sollte eine friedliche Lösung im Kaukasus - Tschetschenien stellt nicht den einzigen Unruheherd dar - schnellstmöglich auch im westeuropäischen Interesse gefunden werden. Dadurch entzieht man Tschetschenien dem Einfluss radikalislamischer Terrororganisationen wie der Al-Kaida, welche häufig in von Perspektivlosigkeit und Enttäuschung gekennzeichneten Regionen ihre Anhänger rekrutieren. Somit betrifft der Konflikt auch wieder die restliche Welt. Zudem steht der scheinbar unabwendbare Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in scharfem Kontrast zu der momentanen "Bündniseuphorie" im westlichen Europa, und kann in Anbetracht sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessen nicht erstrebenswert sein.

Dass Filtrationslager, Terror und Verschleppung nicht die richtigen Mittel zur Bekämpfung eines Unabhängigkeitsbestrebens sind, sondern vielmehr das Gegenteil bewirken, zeigt sich nicht nur in Tschetschenien.

Vielmehr erinnern mich diese Methoden und die daraus resultierenden Folgen an die Lage z. B. in den Palästinensergebieten oder dem Balkan, von gewissen Parallelen zum Vorgehen der Nationalsozialisten gegen Minderheiten ganz zu schweigen (u. a. Filtrationslager, Kollektivbestrafungen, weitreichende Vertreibungen).

Ich halte eine Lösung des Konfliktes "von alleine" aufgrund der innerrussischen politischen Situation - der den Tschetschenienkrieg vehement unterstützende Präsident Wladimir Putin wurde erst am 14.03.2004 mit überwältigender Mehrheit im Amt bestätigt - und der scheinbaren Bedeutungslosigkeit des kleinen Bergvolkes als sehr unwahrscheinlich.

Vielmehr müssten andere Institutionen wie z. B. der Weltsicherheitsrat oder die Europäische Union aktiv werden und statt wirkungsloser Aufrufe zur Mäßigung politischen und wirtschaftlichen Druck auf die russische Regierung ausüben.

Für mich stellt das Eingreifen der russischen Streitkräfte auch unter dem Aspekt der russisch-tschetschenischen Vergangenheit keinesfalls einen Kampf gegen "einige Terroristen" - so die russische Erklärung - dar, sondern vielmehr einen mehr oder weniger organisierten Völkermord, der alleine auf wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Ursachen beruht. Ein ernsthaftes Interesse der russischen Führung an einer entgültigen Befriedung der Kaukasusregion kann ich angesichts der massiven Einmischung in innertschetschenische Angelegenheiten nicht erkennen.

Dass es in Tschetschenien auch kriminelle Strömungen gibt, welche bekämpft werden sollten, steht hierbei außer Frage. Der heutige Konflikt, welcher eine zunehmende Radikalisierung der tschetschenischen Bevölkerung zur Folge hat, scheint jedoch vielmehr durch koloniales und herrscherisches Auftreten Russlands in der Vergangenheit selbst begründet zu sein.

Ein tief verwurzelter radikaler Islamismus existiert nach meiner Überzeugung nur in einem sehr kleinen Teil des tschetschenischen Volkes, der jüngste Zuwachs an radikalen Ideologien ist eher eine Reaktion auf das russische Verhalten und das damit verbundene Scheitern der gemäßigten Strömungen.

Quellenverzeichnis 

Neef, Christian. Der Kaukasus. Russlands offene Wunde. Erste Auflage. Aufbau Taschenbuch Verlag. Berlin 1999.

Wagensohn, Tanja. Krieg in Tschetschenien. Erste Auflage. Akademie für Politik und Zeitgeschehen. München 2000.

Grobe-Hagel, Karl. Tschetschenien. Russlands langer Krieg. Originalausgabe. Neuer ISP Verlag. Köln 2001.

Auch, Eva-Maria. Halbach, Uwe. Informationen zur Politischen Bildung. Kaukasus-Region. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2003.

Dederichs, Mario. ,,Bring sie alle um!’’. Stern. 9(24.2.2000):258

Voswinkel, Johannes. ,,Überleben in der toten Stadt’’. Stern. 14 (30.3.2000):98

Voswinkel, Johannes. ,,Blutige Säuberungen’’. Stern. 33(10.8.2000):120

Dederichs, Mario. ,,Putins endloser Krieg’’. Stern. 45(31.10.2002):40

Kirtadze, Nino. ,,Es war einmal in Tschetschenien’’. Dokumentarfilm. Frankreich 2001. Sender: ARTE, am 3.3.2004, 20.45 Uhr.

Teemu Schaper


Dank: Es war sehr schwer, Bilder aus diesem Land zu bekommen. Lediglich über Fotografen bei entsprechender Bezahlung wären wir fündig geworden.

Daher bedanken wir uns bei der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen für die Überlassung der Bilder und empfehlen den Link an unsere Besucher/innen.

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