Ausgabe 12/2005
Dezember 2005

Los Barrios de Luna:

Fiesta del Pastor

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Im Wörterbuch Spanisch-Deutsch wird "barrio" übersetzt mit Ortsteil, Viertel. Als Anwendungsbeispiele findet man "barrio comercial", was Geschäftsviertel oder "barrio chino", was Rotlichtviertel bedeutet

Los Barrios de Luna findet man nicht im Wörterbuch, sondern im kantabrischen Gebirge hinter Leon.

In der kleinen Ortschaft mit dem magischen Namen "Die Viertel de Mondes" versammeln sich einmal jährlich im Herbst Verschworene zu ihrem Schäferfest. Es sind dies Menschen, die nicht akzeptieren mögen, dass rundum der Fortschritt lauert in feindseliger Absicht. Bei den Mondviertlern ändert sich nichts. Warum sollte es auch?

Der Park mit seinen alten, düster belaubten Bäumen ist schön wie immer und bietet Schutz vor Sonne oder vor Regen und Wind. An kleinen Verkaufsständen entlang der schmalen, staubigen Strasse gibt es zu kaufen, was man braucht, Glocken für die Schafe und Ziegen, Stühle und Spazierstöcke aus rohem Holz, Käse, Oliven und Brot.

Weiter unten kann man Schafe und Ziegen anschauen in kleinen Pferchen aus rostigen Hurden, dazwischen mastines, Rüden und Hündinnen mit ihren Welpen.

Noch etwas weiter unten, wo immer die drei Kessel mit dem Lammfleisch an riesigen Dreibeinen über der Glut pendeln, weitet sich der Blick nach oben auf die bizarren Felswände, die rundum in den Himmel ragen. Man ist immer wieder überwältigt von diesem gigantischen Panorama und weiß nicht, ob man sich beschützt oder bedroht fühlen soll.

Aber dann treffen mehr und mehr amigas und amigos ein. Bei genauerem Hinsehen würden die Beziehungen den Kriterien einer Freundschaft kaum standhalten. Mit vielen trifft man sich nur dieses eine Mal im Jahr. Aber dann ist man sich so nahe, wie man sich nur nahe sein kann, wenn einen die gleiche Leidenschaft verbindet.

Der mastin ist an diesem Tag der Mittelpunkt, um den sich alles dreht.

Dass ein concurso stattfindet, dass die Hunde vorgeführt und bewertet werden in einem mitten im Park ausgesteckten Ring, hat nur äußerliche Ähnlichkeit mit den üblichen Veranstaltungen und tut den Hunden keinen Abbruch.

Schon allein die Musikanten, die nach jeder Runde zur Bekanntgabe der Ergebnisse ungehemmt losschlagen, machen jegliche Erwartung auf übliche Gerechtigkeit und Ordnung zunichte.

Schönheit ist eine Sache, und viele dieser Hunde haben sie in verschwenderischem Übermaß. Aber es gibt auch ruppige Burschen, Charakterköpfe, deren Ausdruck man schwerlich mit ‚dulce’ beschreiben kann. Ihre Schönheit ist anderer Art: der Eindruck, den sie hinterlassen, bleibt unvergesslich. Sie sind nicht die Stars in den großen Hallen, wo die Ringe mit enzianblauem Teppich ausgelegt sind und die Richter Körmass und Standart im Reisegepäck mittragen. Diese Hunde sind die Helden der Trashumancia, die unermüdlichen Begleiter und Beschützer der großen Schafherden auf ihrem langen Weg aus dem sonnenverbrannten Süden hinauf ins raue Klima der nördlicheren Gebirge und im Herbst wieder zurück.

Die Richter in Los Barrios de Luna, oft selber erfahrene Schäfer und mastineros, haben nicht nur Augen für Schönheit, sondern auch Respekt vor Mut, Leistungsbereitschaft und der Tapferkeit einer Hündin, die schon viel zu viele Würfe großgezogen hat.

Deshalb lassen sich die Züchter von Ausstellungshunden kaum blicken, weil eher die düstere Tita mit ihrer breiten Brust und den stämmigen, leicht krummen Beinen gewinnt als die hübsche Helle mit dem Bilderbuchkopf.

Auch die Massenzüchter bleiben fern, denn ihre Devise, den mastin neu zu erfinden, stößt auf wenig Gegenliebe. Ihre bedauernswerten Produkte werden verschickt in alle Welt und über das Internet verschachert, ohne dass der Produzent den Abnehmer noch zu Gesicht bekommt.

Das Produkt wird dem Markt angepasst, weniger Kraft, weniger Bellen, weniger Sabber, sodass man Oma mit Kinderwagen und Hund ohne Probleme zum Einkaufen im Supermarkt losschicken kann.

Nach dem concurso bilden sich im Park Gruppen: jedes Jahr laden andere amigos ihre engsten Freunde zum Essen und Trinken ein. Aus den Autos werden Schachteln, Krüge und Töpfe angeschleppt und es beginnt ein fröhliches, ausgelassenes Geniessen. Die Musik dreht ihre Runden dazu und wenn sie sehr nahe ist, sieht man sich gezwungen, das Gespräch über mastines kurz zu unterbrechen. Hier kann man sie noch hören, die Geschichten über heldenhafte Kämpfe von mastines gegen den Wolf, Erzählungen voll düsterer Magie und barocker Phantasie - und immer wahr, irgendwie.

Wenn der Tag zur Neige geht und die Kessel mit dem Lammfleisch längst leergegessen sind, ruft die Musik zur Siegerehrung auf den kleinen Platz mit der Rundsicht auf die Felswände.

Vor einem geschmückten Podest haben die Honoratioren Aufstellung genommen, viele mit ihrem Schäferstock im Arm. Einige Schäfer sind Züchterlegenden geworden, und ich genieße es voller Ehrfurcht, sie jetzt vor mir stehen zu sehen.

Es gibt Reden, der Priester waltet seines Amtes und die Musik hat ihren Zenith bereits überschritten und wird nun wirklich gut. Felix, die Seele der ganzen Veranstaltung, gibt Namen und Nummern bekannt. Die Aufgerufenen rennen mit ihren Hunden zu den Honoratioren, Handschlag, Trophäe, dann rennen sie unter Applaus wieder davon.

Alle sind begeistert und müde. Mir scheint, ob man gewonnen hat, ist nicht besonders wichtig.

Die Omas mit den Kinderwagen werden überleben und die Trashumancia wird eines Tages aussterben, da mache ich mir kaum Illusionen. Und mit ihr werden die wunderbaren Hunde verschwinden, diese archaischen Gestalten, welche in keine Norm passen und schon gar nicht vor einen Supermarkt!

Aber solange die Mondviertler weitermachen, sollte man nicht aufhören zu hoffen.

Marietta Eggmann

Nachsatz

Die Redaktion bedankt sich bei Marietta Eggmann für Text und die Bilder. Wer sie kennt, mal mit ihr gesprochen hat und ihre eigenen mastines sehen durfte, kommt sicher schnell auf die Idee, auch sie ist so eine "Mondviertlerin". Hoffentlich macht auch sie immer weiter, alleine deswegen, weil die Hunde es wert sind.

Hartmut Deckert