Ausgabe 05/2006
Mai 2006

Transhumanz ...

... am Beispiel der Pyrenäen

Georgischer Bergkaukase
Foto: Frank Schreier

Viel schöner als Josef Müller kann man den Begriff "Transhumanz" nicht in so wenigen Sätzen zusammenfassen. Bevor ich also auf diese eingehe, seine Definition:

"Ich muss vorausschicken, dass es in der Provence üblich ist, das Vieh, sobald die Sommerhitze kommt auf die Almen zu schicken. Tiere und Menschen verbringen fünf; sechs Monate dort oben und hausen bei Mutter Grün, bis über den Bauch im Grase; dann aber; beim ersten Frösteln des Herbstes, steigt man hinab zum Hof und grast wieder nach biederer Haustierart auf den kleinen grauen Hügeln, um die Rosmarinduft weht..."

Unter Transhumanz versteht man die Möglichkeit der Tierhaltung, diese an die verschiedenen Bedingungen des Jahres anzupassen. Dies können sein die sommerliche Hitze, Trockenheit und abgeweidete Futterplätze. Man treibt also seine Tiere immer dahin, wo die Bedingungen für diese am optimalsten sind, denn die Tiere sollen ja gute Fleisch-, Milch- oder Woll- Lieferanten sein. Und das können sie nur, wenn sie gut genährt werden und keinen Krankheiten ausgesetzt sind.

Immer wieder ist zu lesen, wie Hirten in der Vergangenheit mit den Schafen in die Berge gezogen sind, um dort die heißere Jahreszeit zu verbringen. Das stimmt, ist aber auch falsch, denn diese Wanderungen wurden mit allen weidenden Haustieren unternommen, also Ziegen, Eseln, Rindern, aber auch Schweinen. Sogar ein Teil des Federviehes war an diesen Wanderungen beteiligt. Nimmt man noch die Wanderungen der Nomaden hinzu, gab es nichts, was nicht mitgenommen wurde.

Nötig wurde die Transhumanz mit Schafen z. B. deswegen, weil diese das Gras bis auf die Bodenkrumme abfressen und in den tiefer gelegenen Weiden die Zeit zu lange dauerte, bis sich diese nach Regen und einer Ruhezeit wieder erholen konnten.

Schaut man sich die Weidegebiete in den Pyrenäen an, so wird man feststellen, dass mit den Wanderungen der Tiere in unterschiedliche Höhenlagen auch immer ein Klimawechsel verbunden war, der den Schafen sehr gut bekommen ist. Es handelte sich also nicht nur um ein Verbringen der Tiere an ausreichende Futterplätze, sondern es ging auch darum, immer alle Bedingungen zu verbessern.

In einem Fernsehfilm konnte ich daher sehen, dass die Schäfer ihre Tiere sogar während eines Tages auf eine andere Weide trieben. Bei einem derart ausgeklügelten System brauchen die Schäfer zu ihrer Arbeit unbedingt auch Hütehunde. Daher gibt es in den Pyrenäen die kleinen und wendigen Berger des Pyrenees. 

Weidewirtschaft in Georgien,
historisches Foto von:
Frank Schreier

Josef Müller macht zudem in seiner Beschreibung der Transhumanz noch darauf aufmerksam, dass die verschiedenen Tierarten während ihrer Wanderung auch verschiedene Bedingungen brauchen. Gemeint ist damit, dass neben der Zeitdauer auch unterschiedliche Futtermengen zur Verfügung stehen müssen. Er schreibt:

"Da das Schaf im Gegensatz zum Rind sich auch schon von wenigen Zentimeter hohen Grashalmen ernähren kann, machen ihm lange Wanderungen zu besseren Weidegründen überhaupt nichts aus, während Rinder immer hoch gewachsenes Gras brauchen. Die Transhumanz mit Rindern ist daher über weite Strecken kaum zu bewältigen, eine Tagesreise dürfte für sie das Maximum sein.

Nicht so für das Schaf, das durchaus zehn- bis zwanzigtägige Wanderungen von einem Weidegebiet zum andern bewältigen kann."

Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil die Wege von den Winterquartieren auf die Sommerweiden bis zu mehreren Hundert Kilometern lang sein konnten, also z. B. von der Mittelmeerküste zu den französischen Alpen, oder von den Pyrenäen in die Landes bis nach Bordeaux. Tiere, die derart lange Wege zurück legten, werden auch heute noch in den Bergen "Touristen" genannt. Sie erfordern übrigens eine andere Art der Weidung, da sie den Rhythmus der "berggewöhnten" Tiere nicht mithalten können.

Im "Zeitalter des Fortschrittes" hat sich heute diese Wanderung grundlegend geändert. Obwohl auch heute noch Tiere aus dem Raum Bordeaux in die Berge verbracht werden, also bis zu 200 km zurücklegen, geschieht dies sehr oft mit Lastwagen, die die Schafe bis hoch hinein ins Gebirge bringen können, oder umgekehrt bis zum Winterstall.

Unproblematisch sei die "alte Transhumanz" nicht, schreibt Josef Müller:

"Allerdings ist diese große Transhumanz seit den 30er Jahren rückläufig, zunächst wegen des Asphalts der neu angelegten Straßen, der den Schafen massive Fußbeschwerden bis hin zur Gefahr der Blutvergiftung bescherte, vom aufkommenden Kraftfahrzeugverkehr nicht zu reden - und trotz bester technischer Mittel existiert die große Transhumanz seit den achtziger Jahren so gut wie gar nicht mehr, da die Lebensgewohnheiten moderner Menschen mit der mehrmonatigen Abwesenheit des Schäfers von Haus und Familie nicht mehr vereinbar sind."

Ähnlich wie in Spanien gibt es auch in Frankreich uralte Wanderwege der Herden, die den Schäfern per Dekreten zuerkannt waren. Dazu Josef Müller:

"In Südfrankreich gehen die drailles genannten Schaftriften von der Ebene des Languedoc zu den Causses und zum Zentralmassiv etymologisch auf die Kelten zurück, in der Sache selbst handelt es sich aber um die uralten Wanderwege, die bereits die chalcolithischen pasteurs des plateaux und deren Vorgänger benutzten, ohne dass man heute noch entscheiden könnte, ob die Hirten diese Wege auswählten oder ob sie nicht einfach ihren Herden folgten, die rein instinktiv nicht nur den Weg wissen, der allerdings in historischer Zeit mit Steinmauern eingefasst wurde, sondern die auch spontan bei vollem Mondlicht aufbrechen, um die Wanderung fortzusetzen, hierin durchaus den Karibus Nordamerikas vergleichbar."

Transhumanz in Georgien
historisches Foto von:
Frank Schreier

Ganz nebenbei waren diese Wanderwege aber auch noch ein wirtschaftlicher Faktor, denn die Herden hatten einen festgelegten Rhythmus von Pausen und wandern. Daher richtete man "Rastplätze" ein, die irgendwann zu Ortschaften wurden. Josef Müller beschreibt sie so:

"Die Herde zieht dann etwa fünf Stunden weiter, um dann eine ebenso lange Pause einzulegen. Dieser Fünf-Stunden-Rhythmus sorgte im Lauf der Jahrtausende für die Ausdehnung der Pausenorte zu kleinen Weilern".

Bisher war man der Meinung, die Transhumanz finde nur immer in der Richtung Tal/Hochweide statt. Aber Josef Müller beschreibt diese Transhumanz auch umgekehrt:

"Die Fixierung auf Dokumente und somit aufs Mittelalter ergab, dass die erste Richtung der Transhumanz angeblich vom Gebirge zur Ebene hin ging, reiche Klöster und Grundherren hätten ihre Herden so vergrößert, dass sie mit den Futterreserven des Gebirges nicht mehr allein zu ernähren waren und daher in der Ebene überwintern mussten."

Ein weiterer Aspekt der Transhumanz ist sehr wichtig, weil er einer ganzen Reihe von Beschreibungen des Charakters von Hirtenhunden widerspricht, nämlich die so genannte Fixierung der Hunde auf die Herde und nicht auf Menschen. Dadurch seien Hirtenhunde aggressiver, als andere Rassen. Dieser Blödsinn wird aber durch die Transhumanz widerlegt, denn Josef Müller schreibt:

"... Nur auf dem Weg von den provenzalischen Ebenen zu den Alpen war kein Hütehund erforderlich, weil die Herde nur an bestimmten, traditionell bekannten Tagen im Jahr aufgetrieben wurde, weil sie von dem Glockengeläut ihrer Leitschafe und Ziegenböcke weiträumig angekündigt wurde, weil die Bewohner der zu passierenden Dörfer verpflichtet waren, ihre Weinfelder und kleinen Gärten selber zu schützen, und weil es große Ackerflächen auf diesen Transhumanzwegen nicht gibt … Man kann wohl ganz allgemein sagen, dass beim Akt der Transhumanz selbst, also bei der Wanderung von einem Weidegebiet ins andere, ein Hütehund nicht erforderlich ist, da die Schafe instinktiv den richtigen Weg nehmen, der ihnen schon über tausendjährig vorgegeben ist."

Georgisches Bergdorf Dartlo
Foto: Hans-Heiner Buhr
www.kaukasus-reisen.de

Wenn also die Herde mit den sie begleitenden Hirtenhunden auch durch Dörfer kam, musste die Hunde an Menschen gewöhnt sein und diese nicht angreifen. Aus dem von Müller geschriebenen geht außerdem hervor, dass der Schutz des Eigentums den Besitzern oblag und nicht den Schäfern. Die Hunde mussten sich also sozusagen von Fremden etwas "sagen lassen".

Dieser Hinweis von Josef Müller ist sehr wichtig und kann nicht oft genug wiederholt werden, besonders dann, wenn man z. B. über die Listung von Hirtenhunden diskutiert.

Während in den vergangenen Jahrhunderten die Schäferei wesentlich intensiver betrieben wurde, z. B. durch die Weiterverarbeitung der Milch zu Käse- und Joghurtprodukten, ist heute die Besatzdichte deutlich niedriger. So kamen vormals auf einen Schäfer etwa 20 bis 30 Tiere, heute wächst die Größe der Herde, die ein Schäfer "betreut", auf über 1.000 Schafe und mehr.

Über die ökologische Nutzung der Weideflächen schreibt Josef Müller:

"Rinder- und Schafherden sorgten für eine abwechslungsreiche Nutzung der Flächen (auch heute wäre die jährliche Rotation von Rinderherden und Schafherden auf den Weideflächen höchst sinnvoll) ...

Wir unterscheiden also nicht nur die jahreszeitlich bedingte Transhumanz in eine kleine und eine große Transhumanz, sondern innerhalb der kleinen, vertikalen, intramontanen Transhumanz findet täglich eine tageszeitlich bedingte Sonderform der Transhumanz statt: von der ombree, dem Schattwald, zur Sonnenseite, zur solana. All diese Untersysteme des großen Ökosystems der Transhumanz wurden früher minutiös bewirtschaftet; täglich steuerte man die Herden je nach Sonnenstand morgens, mittags und abends auf die am besten geeignete Weide, vermied so Überweidung und Überdüngung und garantierte den Tieren abwechslungsreiche Ernährung und dem produzierten Käse eine pyrenäische Vielfalt des Aromas.

Die Herden konzentrierten sich nicht wie heutzutage auf einige besonders attraktive Flächen, sondern wurden von den aufmerksamen Hirten, die jede Überweidung, aber auch jede Verschwendung vermeiden wollten, zielstrebig geführt ...

Die Konzentration vieler Tiere auf wenige Plätze hat neben den negativen Auswirkungen auf die Kulturlandschaft der Pyrenäen wie anderswo auch den speziellen Effekt, dass die Moderhinke wieder um sich greift, weil die zentralen Pyrenäen ja eine Region sind mit hohem Niederschlag, besonders im Sommer-Regen in jeder Form, aber auch Nebel steht fast jeden Tag auf dem Programm."

Georgische Familie
Foto: Hans-Heiner Buhr
www.kaukasus-reisen.de

Da auf beiden Seiten der Pyrenäen - der spanischen und französischen - Basken leben, sollte die alte Tradition der "olha" im Zusammenhang mit der Beweidung nicht unerwähnt bleiben. Auch dazu fand ich bei Josef Müller eine ganze Reihe interessanter Hinweise. Er schreibt:

"Der olha ist eine geniale Errungenschaft baskischer Kultur, ... Ein olha setzt sich aus sieben Häusern zusammen, von denen jedes einen Mann, meist den Familienvater, auf die Alm delegiert, Es sind aber auf der Alm immer nur sechs Männer anwesend, weil jeder einen Tag in der Woche frei hat, um auf seinem Hof anfallende Arbeiten erledigen oder den Käse auf dem Markt verkaufen zu können."

Und weiter:

"Der olha ist nicht nur die Weidefläche und die steinerne "Residenz" auf der Alm in 1.000 bis 1.700 Meter Höhe, früher mit mindestens zwei, manchmal drei Hütten in verschiedenen Gebirgszonen, ... Wer Mitglied eines olha ist, hat das Recht auf unentgeltliche Beweidung der Alm ... (diese Mitglieder) sind anteilige Besitzer der Alm, und die Anteile errechnen sich nach der Maßeinheit des txotx, das ist eine Gruppe von durchschnittlich 45 bis 60 Mutterschafen, die mit ihren Lämmern zur Alm geschickt werden."

Unter bestimmten Umständen können die Mitglieder einer olha diese auch wechseln, das hat mehrere Vorteile. Zum einen ist die Futterzusammensetzung eine andere, die Tiere bekommen also Abwechslung und zum anderen, so schreibt Josef Müller wird die Zuchtbasis immer wieder erweitert:

"... beim Wechsel in einen anderen olha ergibt sich natürlich auch der Zugang zu anderen Bockgruppen, wodurch nicht nur die Monotonie der Grassorten beendet, sondern auch eine genetische Auffrischung möglich wird."

Wanderschäfer in Georgien
historisches Foto von:
Frank Schreier

Heute sind diese alten Traditionen verschwunden, wie schon geschrieben, betreut ein angestellter Schäfer teilweise über 1.000 Tiere und einigermaßen regelmäßig kommen die Züchter auf die Almen und schauen nach ihren Schafen oder Ziegen. Bei dieser Art der Weidewirtschaft sind Hunde unersetzlich. So haben sich wenigstens Hirten- und Hütehunde in den Pyrenäen gehalten. Unter anderem auch deshalb, weil es neben Wölfen seit Mitte der 90er Jahre wieder aus Slowenien eingeführte Bären gibt. Zur Zeit etwa 15 - 20 Tiere. Und immer wieder haben die Hunde Auseinandersetzungen mit Wildschweinen zu bestehen. Da diese einen Pyrenäenberghund überfordern würden, sind die "Arbeitsplätze" der Hirtenhunde sicher.

Weil wir am Anfang dieses Kapitels es schon mal von der gegenläufigen Transhumanz hatten, möchte ich noch ein Beispiel beschreiben, das ich auch bei Josef Müller fand und das zeigt, Transhumanz war wirtschaftlich nötig zum Überleben der Tiere, aber auch für den eigenen Geldbeutel.

Er schreibt also:

"Abschließend will ich noch erwähnen, dass es auch immer symmetrisch zur großen Transhumanz der Schäfer im Sinne der Schafhirten eine gegenläufige Transhumanz der Ziegenhirten in den Pyrenäen gab, die sich bis zu den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erhalten hat.

Damals war Tuberculose geradezu eine Modekrankheit in den großen Städten, und als Heilmittel galt Ziegenmilch. So hielten sich Ziegenhirten mit "Herden" bis zu gut 20 Ziegen sommers im Umfeld der großen Städte auf bis hinauf nach Lilie, der nördlichsten Großstadt Frankreichs, um im Winter in den Pyrenäen Station zu machen. Eine wahrhaft große Transhumanz."

Hartmut Deckert

Quellen:
Buch "Pyrenäen Schäferhunde" von Josef Müller, Udo Kopernik, Claudia Müller

Unser besonderer Dank für die Bilder geht an Frank Schreier und Hans-Heiner Buhr, die beide in Georgien leben.

In Georgien ziehen sie auch heute noch,
Georgischer Hirte
Foto: Hans-Heiner Buhr
www.kaukasus-reisen.de 


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